Die meisten Menschen verbinden mit dem Radio oder dem Radiohören eine bestimmte Zeit, ein Gefühl oder eine ganz konkrete Geschichte der eigenen Biografie. Wir fragen in dieser Blogreihe nach »Lieblingsgeschichten« und das lässt auf schöne Erinnerungen hoffen, über die man gerne nachdenkt. Das Radio gibt aber auch in weniger einfachen Lebenssituation keine Ruhe und kann als Anker, Ablenkung oder schlicht Begleitung fungieren. Unsere Kollegin Grit Bethmann, Assistenz der Abteilungsleitung Öffentlichkeitsarbeit, erinnert sich an komplizierte Zeiten ihrer Kindheit, in der das Radio »ununterbrochen lief«:

»Meine Radio-Geschichte ist keine Lieblingsgeschichte. Es ist die Erinnerung an eine komplizierte und unübersichtliche Zeit im Leben einer Zehnjährigen in Ost-Berlin. Meine Eltern hatten sich gerade getrennt – meine Mutter war mit ihrem Verlustschmerz beschäftigt, mein Bruder ein zorniger, aggressiver Junge.

In dieser Zeit war ich viel bei meinem Vater und seiner neuen Frau. Ich mochte das, es war schön dort – entspannt und unbeschwert. Einen Fernseher gab es nicht, wir waren viel draußen oder spielten irgendwas zusammen. Im Hintergrund lief ununterbrochen RIAS 2. Am 30. Oktober 1980 jedoch war alles anders. Die Botschaft aus dem Radio elektrisierte die Erwachsenen regelrecht. Fast augenblicklich hatte ich still zu sein, die ganze Aufmerksamkeit galt den Nachrichten, die über den Sender liefen. Das sollte sich den ganzen Tag und auch das kommende Wochenende nicht ändern.

Die DDR hatte an diesem Tag den Reiseverkehr zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen einseitig ausgesetzt und die Grenze faktisch geschlossen. Gesellschaftliche Kontakte zu Polen wurden ›zum Schutz der Interessen der Bürger der DDR‹ massiv beschränkt. Damit reagierte die DDR außenpolitisch auf Verhandlungen der polnischen Regierung mit einem Streikkomitee von Danziger Werftarbeitern unter deren Anführer Lech Walesa.

August-Streiks in Danziger Leninwerft, 1980 – das Radio der Autorin kommentiert pausenlos;
Foto: Zenon Mirota

Anlass der Streikwelle waren Preiserhöhungen für Fleisch am 1. Juli 1980. Mit den Arbeiter*innen solidarisierten sich alle gesellschaftlichen Schichten Polens; auch aus dem Ausland und durch Papst Johannes Paul II. gab es Unterstützung. Aus dem Strohfeuer entstand eine Bewegung, die nicht mehr zu stoppen war. Am 31. August 1980 trotzte das Streikkomitee der Regierung die Unterzeichnung des Danziger Abkommens ab, das u.a. die Zulassung von unabhängigen Gewerkschaften forderte. Am 17. September 1980 gründete sich Solidarność, am 10. November wurde die Bewegung als Gewerkschaft staatlich anerkannt.

Die Staatsführung der DDR kritisierte die Ereignisse im ›sozialistischem Bruderstaat‹ scharf. In Polen sah man konterrevolutionäre Elemente am Werk und eine legale Opposition im Staat Realität werden. Dass sich dieser Geist auf die DDR überträgt, musste unbedingt verhindert werden.

Von alldem verstand ich damals nichts. Ich erlebte meinen Vater mit seiner Frau zum ersten Mal in knallhartem Streit. Sie, Lektorin bei der Zeitschrift Temperamente und überzeugtes Parteimitglied, verteidigte die Linie der DDR vehement. Für meinen Vater hingegen waren die Maßnahmen so radikal und inakzeptabel, dass er einen Bürgerkrieg befürchtete. In dieser Zeit war es ungemütlich bei den beiden. Und das Radio lieferte den ganzen Tag die ›Begleitmusik‹. Ich war froh, dort wegzukommen. Vergessen habe ich es nicht und begriffen habe ich die Ereignisse und deren Kontext erst sehr viel später. Vermutlich war es aber auch das erste Mal, dass ich damit konfrontiert wurde, wie politisch kaputt dieses Land war.«

Grit Bethmann ist die Assistenz der Abteilungsleitung Öffentlichkeitsarbeit am Museum für Kommunikation Berlin. Obwohl ihre Radio-Geschichte von schwierigen Zeiten berichtet, nimmt sie das dem Medium nicht krumm.